Die Lebensmittelindustrie bestimmt, was in den Regalen steht, was wir essen und vielleicht sogar, wie wir uns fühlen. Doch wo endet unser eigener Wille, und wo beginnt die Verantwortung der Konzerne?
Sie kennen bestimmt diese Situation: Sie stehen im Supermarkt und sind unschlüssig über Ihren Einkauf. In Ihrer rechten Hand befindet sich eine Packung langweilige Haferflocken. Aber in Ihrer linken Hand befindet sich eine farbige, attraktive Packung Schokoflocken, mit «weniger Zucker» und «ohne Konservierungsstoffe». Sie haben so Lust auf ein leckeres Müsli, weshalb Sie die Schokoflocken kaufen. Sie reden sich ein, dass es weniger Zucker und keine Konservierungsstoffe beinhaltet. Aber dieses Müsli ist trotzdem voller ungesunden Inhaltsstoffe. Nun stellt sich die Frage, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass oft unbewusst für ungesunde Produkte entschieden wird und somit unserer Gesundheit geschädigt wird. Sind es die Konsumenten, die sich zu wenig darüber informieren? Oder die Lebensmittelkonzerne, die den Konsumenten absichtlich mit bunten Verpackungen und Aufschriften verlocken und täuschen?
Falsches Denken über Ernährung
«Sich gesund ernähren ist wichtig», «Süsses ist schlecht für den Körper» und «Du bist, was du isst», haben Sie bestimmt schon seit Kindesalter gehört. Die Frage stellt sich aber, warum dies so ist. Ohne Hintergrundwissen zu gesunder Ernährung kann man sich auch nicht mit Verantwortung über Ernährung auseinandersetzen. Aus diesem Grund treffen wir uns mit einer informierten Person, die sich mit Ernährung und Gesundheit auskennt.
Es ist ein frischer, bewölkter Februartag. Wir warten mit gefrorenen Fingerspitzen auf das Tram. Endlich im Tram, auf dem Weg zum Spitalquartier, holt Maya einen süssen Schokoriegel aus ihrer Tasche heraus und geniesst diesen. Hingegen hat Emilie zuvor einen knackigen Apfel verzehrt. Wieder aus dem Tram, schlängeln wir uns durch die hohen, modernen Spitalgebäude, auf dem Weg zu einem unscheinbaren Bürogebäude. Dort erwartet uns eine junge Studentin mit einem freundlichen Lächeln. Ihr Name ist Carla Riolo, sie belegt den Studiengang Ernährung und Diätetik. Auf ihrem Bürostuhl, mit einer Tasse Tee in der Hand erklärt sie uns, dass sie zwischen Arbeiten in der Praxis und Hochschulalltag jongliert. Sie erklärt uns auch, dass der Spruch: Du bist, was du isst, gesundheitlich gesehen völlig stimmt, denn die Ernährung hat einen starken Einfluss auf die Gesundheit. Krankheiten wie Adipositas (Fettleibigkeit), Herzkreislauferkrankungen, Diabetes Typ-2, Bluthochdruck, Krebs und Depressionen können durch falsche Ernährung entstehen. Dabei sind Herzkreislauferkrankungen und Krebs die häufigsten Todesursachen in der Schweiz (Stand 2023). Solche Krankheiten sind allgemein in westlichen Ländern ein grosses Problem, da die Ernährung in westlichen Ländern zu fett-, zucker- und salzreich ist und dabei noch zu verarbeitet ist.
«Je verarbeiteter das Lebensmittel, desto weniger sollte man von diesem Lebensmittel essen.» -Carla Maria Riolo
Es gibt weder gute noch schlechte Lebensmittel, die Menge macht den Schaden aus. Hochverarbeitete Lebensmittel, die wenig Nährwerte haben, sind ausschliesslich in grossen Mengen ungesund und in kleineren Mengen nicht. Es gibt aber auch hochverarbeite Lebensmittel, deren Nährwerte vorteilhaft sind, wie z.B. Sojamilch. Die Sojamilch kann für Veganer*innen eine gute, calciumreiche Alternative zu Milch sein. Auch deshalb sollten die Lebensmittel nicht als gut oder schlecht dargestellt werden, denn dies kann zu überkritischem Denken führen und das könnte eine Essstörung auslösen. Dass man bestimmte Lebensmittel in geringeren Mengen essen soll, diese aber trotzdem essen kann, ohne die Gesundheit zu schädigen, ist vielen Menschen nicht bewusst, erwähnt Frau Riolo.
Sie trinkt ein Schluck aus ihrem langsam kaltgewordenen Tee und schaut auf ihr sorgfältig annotiertes, Notizblatt. Ihr Büro ist im Kontrast zum krankenhausartigen Gang, ein angenehmer Ort. Bunte Plakate zu Ernährung, farbige Flaschen, mehrere Bücher und Lebensmittel bringen Farbe in den schwarz-weiss vermöbelten Raum.
Frau Riolo erklärt uns, dass viele Menschen durch Verpackungen und Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie beeinflusst werden. Verwirrt werden die Konsumenten zum Beispiel von Labels (Etiketten, welche Informationen über den Inhalt liefern). Der Nutri-Score, der in vielen europäischen Ländern eingeführt wurde, ist ein gutes Beispiel. Dieser vergleicht Lebensmittel der einzelnen Lebensmittelkategorien, die «gesünderen» Lebensmittel einer Kategorie werden mit A (grün) bewertet, die «ungesünderen» mit E (rot). Deshalb werden Tiefkühlpizzen zum Teil mit A klassifiziert, obwohl diese trotzdem voller Fette, Zucker und Salz sind. Olivenöl, das ein gesundes, ungesättigtes Öl ist, wird aber als C/D eingeordnet, nur weil der Fettgehalt von Olivenöl im Vergleich zu anderen Lebensmittel der Kategorie Nüsse, Samen und Pflanzenöle etwas höher ist. Dieses System verwirrt die Kunden, denn diese denken, dass Olivenöl nun ungesünder ist als Tiefkühlpizza, obwohl dies nicht der Fall ist. Auch Aufschriften, wie zum Beispiel «hoher Calciumgehalt» auf Schokolade, lässt die Konsumenten denken, dass die Schokolade eine gute Calciumquelle ist, obwohl z.B. Milch der bessere Calciumlieferant wäre. Es dürfen aber nicht alle Lebensmittel als Calciumreich anschrieben werden, denn der Gebrauch solcher Aufschriften wird gesetzlich geregelt. Solche Uninformiertheiten werden oft von der Lebensmittelindustrie genutzt, um ihre Lebensmittel besser zu verkaufen. Die Ernährungskompetenz der Menschen zu stärken, würde die Menschen dazu bringen, gute Entscheidungen über ihre Einkäufe zu treffen und weniger in solche Fallen hineinzutappen. Deshalb ist Frau Riolo der Meinung, dass man das Volk besser über Ernährung aufklären soll. Dies ist aber die Verantwortung der Politik. Frau Riolo ist der Meinung, dass für Bildung und Regelungen die Politik verantwortlich ist, aber die Einzelperson muss selbst über ihre Ernährung und Gesundheit bestimmen. Unternehmen können aber auch durch ihr Sortiment und Design einen starken Einfluss haben. Auf dem Rückweg beklagt sich Maya über ihren starken Hunger, während Emilie sich noch vom Apfel gesättigt fühlt. «Nun verstehe ich, warum ich mich nach Schokoriegeln immer wieder hungrig fühle», begreift Maya.
Verpackung als Verkäufer
Christoph Schlatter ist Creative Direktor bei der Schweizer Agentur Allink und gestaltet Verpackungen für bekannte Marken.
«Alle Lebensmittel werden absichtlich so gestaltet, dass man sie kaufen möchte, ganz egal ob gesund oder ungesund.»
-Christoph Schlatter
Farben, Schriften und Bilder wecken gezielt die Erwartungen und Emotionen der Käufer. Das Verpackungsdesign übernimmt somit die Aufgabe eines Verkäufers. Doch trägt der Designer die Verantwortung für eine gesunde Ernährung des Verbrauchers? Schlatter ist der Meinung, dass das die Aufgabe der Konzerne und der Politik ist. Er möchte durch seine Designs die Käufer unterstützen. Allink sucht gezielt die Zusammenarbeit mit Unternehmen, deren Produkte und Philosophie sie unterstützen können. Der Markt folgt immer den Trends. Früher waren die Light-Produckte «In» und jetzt stehen proteinhaltige Produkte hoch im Kurs. Auch kleine Startups setzten sich gegen die grossen Konzerne durch und nachhaltiges Design wird immer wichtiger. Trotzdem bleibt die Frage: Wie gesund sind vermutlich gesunde Produkte wirklich? Fleischersatzprodukte mit fragwürdigen Inhaltsstoffen zeigen, dass Verpackungsdesign allein keine Garantie für eine gesunde Ernährung ist. Am Ende bleibt es eine Kombination aus Eigenverantwortung und verantwortungsvollem Handeln auf Seite der Produzenten, so Schlatter.
Zwischen Macht und Verantwortung
Es ist ein kalter Wintertag. Im Bus, auf dem Weg zur Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften, fahren wir an vielen verschiedenen Werbeplakaten vorbei. «Der neue Burger, zwei Hände voller Geschmack», steht auf einem farbigen Plakat mit einem Bild von einem saftigen Burger. Unsere Mägen fangen an zu knurren und ein Gefühl von Hunger steigt auf. Mitten in der schönen Natur, sieht man das moderne Gebäude der Fachhochschule. In der Eingangshalle erwartet uns eine Frau mit einem warmen Lächeln: Professorin Evelyn Markoni, begleitet von ihrem Labrador Monti. Frau Markoni hat ihr Studium mit der Vision einer gerechteren Gesellschaft, in der alle Menschen Zugang zu gesunder Ernährung haben, in Basel absolviert. Ihre Arbeit ist sehr abwechslungsreich. Sie unterrichtet ernährungssoziologische Themen, führt Forschungsprojekte durch und arbeitet aktiv an Lösungen für eine nachhaltigere Ernährungspolitik. Sie betont, dass Wissen, Werte und Ressourcen entscheidend sind für eine gesunde Ernährung. Bereits in Schulen sollten gesunde Gerichte angeboten werden und passender Unterricht zu diesem Thema gestaltet werden. Die Kinder sollen die Möglichkeit kriegen, in einen Betrieb zu gehen und selbst sehen wie die Lebensmittel, die sie Tag täglich konsumieren, hergestellt werden. Es gibt so viele Labels, welche die Konsumenten schnell überfordern. Oder dass ein Produkt gesünder und frischer dargestellt wird, als es eigentlich ist. Der sogenannte Etikettenschwindel. Doch viel mehr Einfluss hätten kontroverse Werbungen, erzählt Professorin Markoni. Wie zum Beispiel die Fleischwerbungen im Sommer, die mit «Barbecue-Feeling» vermarktet werden. Fleisch ist aber ethisch und vor allem ökologisch gesehen schlecht vertretbar, da es den Klimawandel fördert. Um solchen Konsum zu vermindern, sollten die Werberegulierungen geändert werden.
In der hell beleuchteten Cafeteria, in der wir unser Gespräch führen, liegt Monti entspannt auf dem Boden. Professorin Markoni hingegen sitzt aufrecht und spricht mit Überzeugung.
«Man sollte die guten gesünderen Lebensmittel positiv herausheben, anstatt mit negativen Messages zu arbeiten.»
-Evelyn Markoni
Somit werden die Konsumenten positiv beeinflusst, anstatt runtergemacht zu werden. Laut Evelyn Markoni teilen Unternehmen, Politik und Konsument die Verantwortung, aber die Unternehmen haben die Macht und das Geld, somit der grosse Teil der Verantwortung. Die Politik darf jedoch nicht vergessen werden, sie setzt die Rahmenbedingungen. Aber auch die Konsumenten müssen bewusstere Entscheidungen treffen und sich beim Einkaufen mehr Zeit nehmen.
Nach dem halbstündigen Interview ist zu sehen, dass die Sonne, die vorhin noch golden geschienen hat, ihren Weg nach Westen weitergeführt hat. Auf der anderen Seite der Welt sitzen jetzt Millionen von Menschen an ihren Frühstückstischen, greifen nach Cornflakes, Brötchen oder Rührei. Dies sind Entscheidungen, die genauso von den Werbungen, Verpackungen und Verfügbarkeiten beeinflusst werden, wie unsere.
Schlussendlich liegt die Verantwortung nicht nur in Händen von der Einzelperson, aber auch nicht nur in den Händen der Unternehmen. Wie Evelyn Markoni sagt, haben die Unternehmen die Macht und das Geld, somit viel Verantwortung, aber auch die Einzelperson muss sich ihren Einkauf gut überlegen, sich informieren und sich auch Zeit lassen. Und so stehen wir immer wieder vor den Regalen – Haferflocken in der einen Hand, Schokomüsli in der anderen. Am Ende gewinnt oft die bunte Verpackung mit den vielversprechenden Aufschriften. Aber war es wirklich unsere eigene Entscheidung? Oder wurde sie längst für uns getroffen?